Die Tür aus den Angeln

Diese Reportage habe ich gemeinsam mit Jenny Stern für das Grenzenlos Magazin – Riga Spezial geschrieben.

Im Kulturhauptstadtjahr 2014 hat Riga die ehemalige Landeszentrale des sowjetischen Geheimdienstes KGB als Museum geöffnet. Die Stūra māja, das Eckhaus, ist von enormer Bedeutung für die Geschichte Lettlands. Doch am 19. Oktober soll sie vorerst geschlossen werden, die Zukunft des maroden Gebäudes bleibt ungewiss. Dabei wäre es eine Chance zur historischen Aufarbeitung.

Rede niemals über die Vergangenheit: Die Generation junger Letten und Russen hält sich an dieses ungeschriebene Gesetz. „Wir sind die erste Generation Letten, die auch russische Freunde haben“, sagt Mārtiņš Zvīdriņš. „Das einzige Tabuthema bleibt aber unsere Geschichte.“ Als Auszubildender steht er in seiner Arbeitszeit hinter dem Bankschalter – in der Freizeit führt er Einheimische und Touristen durch das ehemalige KGB-Gebäude. Der 23-Jährige spricht während des Rundgangs durch das geschichtsträchtige Haus in fließendem Deutsch. Wenn ihm ein Wort nicht einfällt, wechselt er verlegen ins Englische. Und nebenbei unterhält er eine weitere, lettische, Gruppe in seiner Muttersprache. Nur Russisch kann er nicht. Das Haus in der Brīvības iela, der Freiheitsstraße, besuchen Russen wie Letten. „Sie nehmen die Geschichte des Gebäudes aber unterschiedlich wahr“, sagt Zvīdriņš.

Geschichtliche Einordnung

Lettland erlangte seine erste Unabhängigkeit 1918 – und verlor sie bereits 20 Jahre später. Danach litt das Baltikum ein halbes Jahrhundert unter der Fremdherrschaft durch die Sowjetunion und Nazideutschland. Die Stūra māja, das Eckhaus, nutzten der sowjetische Geheimdienst wie die Nationalsozialisten für ihren Terror. Während der Stalinschen Säuberungen wurden auch in Lettland alleine von 1940 bis 1941 etwa 35.000 Menschen in Arbeitslager nach Sibirien verschleppt. Viele wurden von Offizieren der Tscheka zuvor im Gebäudekomplex in der heutigen Freiheitsstraße verhört und gefoltert. Die Tscheka, die erste Staatssicherheit der Sowjetunion, wurde im Zuge der Oktoberrevolution 1917 gegründet. Bis heute verwenden die Letten den Begriff Tschekisten umgangssprachlich für die Nachfolgeorganisationen des sowjetischen Geheimdienstes. Nach der zweiten Unabhängigkeit Lettlands 1991 nutze die Polizei bis 2008 das Gebäude als Gefängnis. Im Keller des Hauses waren die Haftzellen untergebracht, in den oberen Stockwerken die Büros. Für Rīga 2014 wurde es von Mai bis Oktober wiedereröffnet, doch die Zukunft des 8.550 m² großen Hauses ist noch ungewiss.

Die Registrierung. Ein weißes Blatt liegt unscheinbar auf dem langen Tresen im Eingangsbereich. Mit kyrillischen Schriftzeichen bedruckt, symbolisiert es das grausame Schicksal von Tausenden Menschen, die in die Stūra māja verschleppt wurden. „Insgesamt 43 000 wurden in diesem Haus inhaftiert“, sagt Zvīdriņš. Die meisten von ihnen schließlich ermordet. Auf dem Papier mussten die Häftlinge nicht nur formelle Daten ausfüllen, sondern vor allem persönliche Informationen weitergeben: Wo steckt der Onkel, wo die Schwester? Wie ist der Freund gegenüber dem neuen Regime gesinnt? In Gedenken an die Opfer ebenjenes Regimes hängen heute schwarz-weiße Porträts an der beschmutzten Wand. Einmal im Profil, einmal frontal. Und immer eine Kennziffer um den Hals gebunden. Karteikartengroß. Sie passen genau in die Fächer des Schranks aus Eichenholz, der sich darunter befindet. 35 kleine Schubladen, die eine halb geöffnet und ohne Knauf, die meisten gut verschlossen.

Die Registrierung (c) David Ehl

Das Verhör. Im nächsten Zimmer fällt der erste Blick auf den schwarzen Schlagstock auf dem Schreibtisch. Die Farbe auf Griff und Schlagseite sind abgewetzt, lassen die Struktur des festen Holzmaterials erkennen. Auf zwei Stühlen saßen sich Häftling und Geheimdienst-Offizier direkt gegenüber, nur eine Tischbreite entfernt. Die weiß-graue Tapete nimmt das Kachelmuster des brauntönigen Bodens auf und wird durch eine verspiegelte Scheibe unterbrochen. Von der anderen Seite verfolgten die Offiziere des sowjetischen Geheimdienstes, umgangssprachlich Tschekisten genannt, unbemerkt aus einem kleinen Raum die Befragung. Zur Vorbereitung auf die Verhöre wurden die Gefangenen zwölf Stunden in eine dunkle, stickige Kammer gesperrt, in der sie gerade einmal sitzen konnten. Gefangene, die den Terror überlebten, erinnerten sich oft an die ambivalente Verhörtechnik, erzählt Zvīdriņš. „In einem Moment waren sie freundlich und verständnisvoll. Wenn sie die gewünschte Information nicht hörten, schlugen sie aber ohne Vorwarnung brutal zu.“

Die Zelle. In der feuchtkalten Luft des düsteren Zellentrakts drückt der modrige Gestank. Eine schwere Holztür reiht sich an die andere. Die meisten haben einen dreifachen Verriegelungsmechanismus, heute stehen sie aber offen. An Zelle Nummer zwei hängt ein graues Vorhängeschloss, vom Rost zerfressen. Darüber ein schwarz-bräunlicher Vorschieberiegel und eine schwere Eisenkette, deren Ende am Türrahmen eingehängt wird. Für die Essensausgabe angedacht war eine quadratische, handflächengroße Öffnung in der Tür. Der einst pastellgrüne, heute schimmlige und dreckige Anstrich blättert von Tür und Wand und legt den weißen Putz dahinter frei. „In den Gängen lagen dicke, rote Teppiche, die das Blut aufsaugen sollten“, sagt Zvīdriņš. Er führt die Gruppe in eine Zelle, die ursprünglich für sechs Häftlinge angedacht war. Vier schmale Betten aus dünnen Holzplatten sind an der Wand aufgestellt. Zu Tscheka-Zeiten wurden in der Zelle von vier auf sechs Metern zeitweise über 40 Personen eingepfercht. Unerträgliche Hitze und helles Licht, das 24 Stunden lang am Tag brannte, wurden als Foltermethoden eingesetzt. Neben der Tür verengt sich ein tellergroßes Wandloch kegelförmig. Durch das eingebaute Fischauge fühlten sich die Insassen ständig beobachtet.

Seite 2: „Rede über die Vergangenheit.“

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