Experimenteller Tourismus

„Reisen veredelt wunderbar den Geist und räumt mit all unseren Vorurteilen auf,“ schrieb Oscar Wilde einmal. Nun gibt es mittlerweile für fast jeden Ort der Welt einen Reiseführer, der dem Lesenden Orientierung bietet und den Kanon der wichtigsten Sehenswürdigkeiten herunterbetet, damit man auch bloß kein Touristenziel verpasst. Man kann Städte also in millionenfach erprobter Choreografie bereisen und sich in den Mahlstrom der Touristen einreihen.

Oder man wandelt abseits der ausgetretenen Touristenpfade. Der französische Journalist Joël Henry ist der Vater eines Konzepts, das unter dem Namen „Experimenteller Tourismus“ bekannt wurde. Seine Ideen sammelt er im „Laboratoire de tourisme expérimental“, kurz LaTourEx. Der alternative Reiseführer-Verlag Lonely Planet hat sogar ein ganzes Buch über Experimentellen Tourismus herausgegeben. Ziel sämtlicher Methoden ist es, durch Zufall an besondere Orte zu kommen, die sonst nur auf den zweiten Blick auffallen. Davon inspiriert, habe ich mit Würfelguru Kathi und David in Riga eine einfache eigene Variante mit einem Würfel ausprobiert.

Wir sind an der Laima-Uhr mitten im Zentrum von Riga gestartet. Die selbst auferlegten Regeln waren simpel:

1: Erste Abbiegung links
2: Zweite Abbiegung rechts
3: Dritte Abbiegung links
4: Vierte Abbiegung rechts
5: Fünfte Abbiegung links
6: In den ersten Bus einsteigen; ein zweiter Wurf bestimmt die Anzahl der Haltestellen

Laima-Uhr. Würfel: 2

Nach mehreren Regentagen hat die Julisonne den blauen Himmel zurückerobert. Auf dem Aspazijas bulvāris donnern die Straßenbahnen und Autos vorbei an der alten Uhr. Die lettische Schokoladenfirma hatte sie 1924 aufgestellt, damit ihre Angestellten pünktlich zur Arbeit kommen. Vom naheliegenden Platz tröpfeln einzelne Klaviertöne eines Straßenmusikers herüber. Eine breite Brücke spannt sich über den ehemaligen Festungsgraben, der heute friedlich durch den Esplanadenpark plätschert.

Brīvības piemineklis. Würfel: 3

Vor dem Freiheitsdenkmal patroullieren zwei Wachmänner in Gardeuniform. Langsam überqueren sie in perfekt synchronem Stechschritt den Platz. Hinter ihnen reckt sich der 19 Meter hohe Obelisk in den blauen Himmel. Er trägt die grün patinierte Frauenstatue, die die Eigenständigkeit Lettlands verkörpert. „Tēvzemei un Brīvībai“ – Für Vaterland und Freiheit, prangt auf dem steinernen Sockel. Vor ihm liegen wie immer frische Blumen, mit denen die Letten ihren gefallenen Kriegern gedenken. Um das Denkmal herum hasten Menschen vorbei, die es kaum eines Blickes würdigen. Wir biegen nach rechts auf einen schmalen Fußweg. Drei junge Frauen mit Eiskaffee-Milchshakes kommen aus dem Park, ins Gespräch vertieft.

Uferweg, gegenüber der Nationaloper. Würfel: 5

Auf der zum Wasser abfallenden Wiese genießt ein junges Paar den Sommertag. Die großen Buchen spenden zwar Schatten, aber dennoch liegen die beiden auf Handtüchern, als wollten sie sich sonnen. Wenige Meter weiter spritzt eine Fontäne das Wasser aus dem alten Festungsgraben hoch in die Luft. Riga bietet in seinem Stadtzentrum mit ausgedehnten Grünanlagen viel Lebensqualität. Abends überqueren Letten in feiner Garderobe die Brücke bei der Fontäne, um die Nationaloper zu besuchen.

Krīšjāna Baroņa iela. Würfel: 1

Die fünfte Abbiegung nach links liegt mitten in der Unterführung unter der großen Kreuzung der Krīšjāna Baroņa iela mit dem Raina bulvāris. Die geräumige Passage beherbergt ein paar kleine Läden, die Schreibwaren und Backwerk anbieten. Eine Mutter zieht ihren blonden Sohn am Arm die Treppe hoch auf den geräumigen Bürgersteig, in der linken Hand trägt sie einen City-Roller. Auf der Straße schaltet die Ampel auf grün, ein Motorradfahrer fährt auf seiner aufheulenden Maschine davon.

Merķeļa iela. Würfel: 6

Die Würfel schicken uns nach links in die Merķeļa iela. Eine alte Frau in hellgrauem Mantel schafft es noch gerade so über den Zebrastreifen, bevor die Ampel auf Rot springt. Die Anzeige zählt jetzt von 80 Sekunden an herab – so lange brausen die Autos und Trolleybusse über die breite dreispurige Straße. Wir stehen nur kurz an der Bushaltestelle, bis sich der erste Bus nähert: Die Linie 17 nach Purvciems. Der Würfel hat uns zur dritten Haltestelle geschickt.

Linie 17 Richtung Purvciems. Würfel: 2

Am Brīvības bulvāris, dem Freiheitsboulevard, biegt der Bus nach rechts ab. Der Wagen ist etwa halb voll, in Türnähe, gegen die Fahrtrichtung sitzt eine etwa 60-jährige Lettin mit kastanienbraun gefärbten Haaren. Vor ihr steht ein Ziehwägelchen, das mit schwarz-weiß kariertem Stoff bezogen ist. Aus der Tasche ragen Dahlien und Rosen in satten Rot-, Gelb- und Orangetönen. Wir steigen an der Gertrude iela aus; gegenüber der Bushaltestelle steht die alte Nationalbibliothek, deren Bücher gerade in das neue Gebäude am Daugava-Ufer umziehen.

Martas iela. Würfel: 1

Die Martas iela ist eine typische Straße in der Rigaer Neustadt: Unter vereinzelte Jugendstilhäuser mischen sich hauptsächlich sowjetische Blockhäuser in architektonischer Bedeutungslosigkeit. Am Straßenrand finden sich Geschäfte und Eingänge zu den Wohn- und Bürobereichen; einige Wände tragen Graffiti. Wir biegen die erste links ab und kommen wiederum auf der langen Krīšjāna Baroņa iela heraus. Nach wenigen Metern taucht auf der rechten Straßenseite das Rama auf – ein vegetarisches Restaurant, das wir ohnehin noch besuchen wollten. Also erklären wir das Würfel-Experiment vorerst für beendet.

Essen im Rama (c) David Ehl

Fazit

Vielleicht war der Startpunkt nicht ideal gewählt, aber so viele Überraschungen bargen unsere Zufallsorte nicht. Im Gegenteil, an einigen Stellen wären wir rein nach unserem Bauchgefühl lieber in die andere Richtung gegangen. Generell sollte Reisen vielmehr auf souveränen Entscheidungen beruhen. Man sollte immer dorthin gehen, wo es gerade am Vielversprechendsten erscheint. Nichtsdestotrotz war es interessant, den Kopf am Würfeltisch abzugeben – immerhin hat uns der schiere Zufall direkt zum Rama getrieben, dem wir ohnehin noch einen Besuch abstatten wollten. Vielleicht probiere ich bald mal ein ein etwas verrückteres Konzept von Joël Henry aus…