„Theater kann nicht tagesaktuell sein, es erfasst nur Zeitströmungen“, sagte eine Dramaturgin vor wenigen Monaten sinngemäß in einem Interviewgespräch. Das leuchtete mir damals ein – „Rechtsmaterial“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe belehrte mich jedoch nun eines Besseren. Das Stück von Jan-Christoph Gockel und Konstantin Küspert bohrt sich tief in den Nationalsozialistischen Untergrund.
„Wollt ihr zur Einführung von ‚Rechtsmaterial‘?“, fragt der Mann Anfang dreißig, dessen Haare bereits grau werden. Er trägt Shorts, Birkenstocks und T-Shirt, in seinen rechten Arm ist ein Muster aus Rechtecken tätowiert. Konstantin Küspert ist der Dramaturg und Mitautor des Stücks. Wir setzen uns in die pralle Abendsonne, der Dramaturg, mein Bruder und ich. Dann erklärt Küspert die Zusammenhänge: Nach dem Bekanntwerden der NSU-Verbrechen musste er geschockt erkennen, dass es offenbar Nazis gibt, die organisierter sind als die klischeehaften Glatzen, „die mit dem Öffnen einer Bierdose motorisch schon ausgelastet sind“. Mit Jan-Christoph Gockel durfte er ein Stück machen, der Text entstand zu großen Teilen gemeinsam mit den Schauspielern. Eine wichtige Technik haben sich die Autoren von Bert Brecht abgeschaut: Die Historisierung, mit der sie über die Geschehnisse in der Jenaer NSU-WG und im Winzerclub ein erfolgreiches Theaterstück aus NS-Zeiten legten. In Hanns Johsts „Schlageter“ von 1933 wird ein Freiburger Soldat zum ersten Helden des Nationalsozialismus hochstilisiert; die krankhaft übersteigerte Ideologie fügt sich nahtlos in „Rechtsmaterial“ ein. Der gesamte Stab hatte zudem im Frühjahr den Münchner NSU-Prozess und das Konzentrationslager Dachau geprägt – laut Konstantin Küspert ein Schlüsselmoment für die Inszenierung.
Die Inszenierung ist krass. Die Schauspieler haben viele Texte unterschiedlicher Quellen eingebracht, das Gesamtbild ist dementsprechend fragmentarisch. Es wird mit Ton- und Videoeinspielern gearbeitet: Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt sind in alten Winzerclub-Aufnahmen als Jugendliche zu sehen. Ebenso Unionspolitiker, wie sie Anfang der 1990er Aussagen zu Flüchtlingspolitik treffen, die man heute aus dem Klientel allenfalls der AfD erwarten würde.
„Rechtsmaterial“ spielt mit Zitaten, Gesten und Symboliken. Den Hitlergruß zeigen die Schauspieler ebenso oft wie das Hakenkreuz – und zeigen damit gekonnt den Wahnsinn der NSU auf. Musikeinspieler wie die „Winterreise“ oder die „Träumerei“ von Franz Schubert untermalen, Rammsteins „Benzin“ – im Anklang an Zschäpes Versuch, durch ein Feuer sämtliche Beweise in der NSU-Wohnung zu vernichten – dröhnt schmerzhaft laut aus den Boxen. Die vielleicht heftigste Szene ist jedoch eine leise: Während auf den Boden mit weißer Farbe symbolisch die Tatortkonturen der Opfer ihres Terrors aufgemalt werden, sitzen die Mörder gemütlich auf der Sofas und unterhalten sich darüber, wie köstlich Beate Zschäpes Rindsrouladen schmecken.
Begleitend zur Aufführung ist in einem Foyer des Theatergebäudes eine Ausstellung über die fast 200 Opfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung aufgebaut. Sie ergänzt die düster-verstörenden Bilder von „Rechtsmaterial“ um eine nüchtern-sachliche Ebene. Und da man nach einer solchen Aufführung großen Gesprächsbedarf haben kann, bietet das Badische Staatstheater nach jeder Vorstellung ein Künstlergespräch an. Neben Dramaturg Konstantin Küspert nahmen sich auch drei der Darsteller die Zeit und suchten noch einmal über eine Stunde den Dialog mit dem Publikum.
Einziger Wermutstropfen der Aufführung am Samstag: Die Ränge im Studio blieben fast leer, nur knapp 20 Zuschauer hatten an diesem sonnigen Wochenende ihren Weg ins Theater gefunden. Die waren jedoch sichtlich beeindruckt von der Leistung der Schauspieler, denen man den leeren Zuschauerraum zu keinem Zeitpunkt anmerkte. Schade, dass gerade bei einem solch wichtigen und sensiblen Thema für die Gesellschaft in Deutschland so viele Stühle leer blieben. Gerade, wenn Theater beweist, wie tagesaktuell es sein kann.