Referendum in Schottland, Separatisten in der Ukraine – Europa redet dieser Tage viel über Grenzen. In beiden Fällen geht es darum, sich zu emanzipieren und mehr Macht in die Hände derjenigen zu legen, die womöglich die lokalen Interessen besser zu vertreten scheinen. Nicht miteinander vergleichbar sind die Methoden: Die Schotten sind zu einer simplen Mehrheitsentscheidung aufgerufen, während die Separatisten in der Ukraine ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen versuchen. Und während die einen neue Grenzen ziehen wollen, wächst Europa als gemeinsamer Wirtschaftsraum immer mehr zusammen. Es ist an der Zeit, über Grenzen zu reden.
Grenzenloses Leben
Ich bin in einer Region aufgewachsen, die die deutsche Grenze bereits aus allen Perspektiven gesehen hat. Das Saarland war bereits deutsch, französisch und für eine kurze Zeit auch souverän, in zwei Referenden hat sich die Bevölkerung jeweils für eine Angliederung an Deutschland entschieden. Das war alles vor meiner Geburt. Ich kann mich nur noch vage an den deutsch-französischen Grenzübergang erinnern. Im Laufe der 1990er wurden die Schengener Abkommen so weit umgesetzt, dass ich praktisch in einer Grenzregion ohne Grenze aufgewachsen bin – übrigens unweit des luxemburgischen Örtchens Schengen, das wegen seiner symbolkräftigen Lage im Dreiländereck 1985 als Ratifizierungsort der Vereinbarung auserkoren worden war.
Es war für mich nie etwas Außergewöhnliches, mal eben über die Grenze zu fahren – in Frankreich gab es Baguette und Croissants, in Luxemburg billigeres Benzin. Genauso alltäglich war es, in den saarländischen Fußgängerzonen Menschen französisch sprechen zu hören. Die Region Saarland-Lothringen-Luxemburg (kurz: Saar-Lor-Lux) gibt sich auch politisch und kulturell alle Mühe, zusammen zu wachsen. Im Jahr 2007 war die ganze Großregion, die auch Teile Belgiens und der Eifel einschließt, Europäische Kulturhauptstadt.
Grenzen teilen Heimat und Fremde
Trotz oder gerade wegen aller Zusammenarbeit hat jedoch jeder Teil der Großregion seine eigene Identität gewahrt: Das kleine Luxemburg hat großes Gewicht in der EU, Lothringen könnte französischer kaum sein und die Saarländer sind sowieso über jeglichen Identitätszweifel erhaben. Für die Menschen an der Saar ist ihr Bundesland die dominante Identifikationsebene, nur 23 Prozent können sich vorstellen, dass sie in einem anderen Bundesland ähnlich glücklich sein könnten. Damit sind die Saarländer so heimatverwurzelt wie sonst nur Bayern und Hamburger.
Dieses emotionale Argument ist vermutlich das Gewichtigste, das Kritiker dem finanziellen Einsparpotenzial einer etwaigen Länderfusion mit Rheinland-Pfalz entgegenzusetzen haben. Auch wenn die Grenzen des Saarlands in keine Richtung eine physische Barriere darstellen, als Verwaltungsgrenzen haben sie Gültigkeit. Eine Grenze als klare Trennlinie auf der Landkarte schafft die Möglichkeit zur Identifizierung mit einem geschlossenen Personenkreis – aber die Saarländer wissen eben auch zu schätzen, dass sie nicht hinter einer physischen Grenze eingesperrt sind. Wer weiß – vielleicht wäre ja bei einer Länderfusion nach einem kurzen Sturm der Entrüstung alles so wie früher? Schließlich identifiziert sich ein Pfälzer auch eher mit der Region Pfalz als seinem gesamten Bundesland. Sogar die nach dem Zweiten Weltkrieg zu Hessen geschlagenen rechtsrheinischen Mainzer Stadtteile Amöneburg, Kastel und Kostheim verstehen sich ungeachtet der Verwaltungsgrenzen als Mainzer.
Die Grenzen in unseren Köpfen
Letztendlich funktioniert lokale Verwurzelung immer über Regionen, die klar abgegrenzt sind. Dabei ist die politische Relevanz der Grenzen sekundär, Regionen funktionieren auch innerhalb eines Verwaltungsraums. Die Großregion Saar-Lor-Lux beweist, dass regionale Vernetzung auch über politische Grenzen hinaus funktioniert. Europa ist zusammen gewachsen, Grenzen sind Nebensache, solange sie wie im Schengen-Raum offen bleiben. Am Ende ist nur wichtig – und das gilt an der Saar genauso wie am Tweed und am Dnepr –, dass wir den Grenzen in unseren Köpfen ähnlich wenig Bedeutung beimessen.