An ihren Händen haften silbrige Fischschuppen, als sie das Messer zu den Fischen in die verbeulte Blechschale legt. Als Mrs Abiyeh aufblickt, weicht ihre konzentrierte Miene einem herzlichen Lächeln. „Selbstverständlich, der Leuchtturm ist für Besucher offen“, antwortet sie auf Englisch. Dann erklimmt sie vor uns die rund zwanzig Stufen der Außentreppe. Die Bodenbleche sind teils vom Rost durchlöchert. Auf halber Höhe grüßt Mr Abiyeh freundlich, auf dem überdachten Podest am oberen Ende sitzen zwei Töchter der Familie. Die Abiyehs sind die Hüter des Leuchtturms der ghanaischen Küstenstadt Cape Coast.
Mrs Abiyeh schiebt die schwere Holztür auf und bedeutet uns, ihr zu folgen. Der gedrungene untere Teil des Turms verjüngt sich hier zu einem gekalkten oberen Teil, der auf dem Sockel sitzt wie eine Kerze in der Mitte eines Kuchens. In regelmäßigen Abständen sind am Rand des Sockels schwere gusseiserne Kanonen postiert. Sie zeugen noch vom wehrhaften Zweck, der Fort William einst zu seinem für einen Leuchtturm sehr trutzigen Namen verhalf. Mrs Abiyeh erklärt, dass der Turm 1820 von den Briten errichtet wurde, von 1830 bis 1970 verrichtete er seinen Dienst als Leuchtfeuer.
Cape Coast war einst die Hauptstadt der britischen Kolonie Goldküste. Cape Coast Castle war ein wichtiger Verwaltungssitz, und der Ausguck auf dem nahen Hügel ein Garant, dass das auch so bleibt. Das Kommunikationszimmer des Schlosses war ständig besetzt, um die Signale aus dem Krähennest zu beobachten und frühzeitig zu erfahren, wenn sich auf dem Atlantik etwas tat.
Heute blicken nur noch Besucher durch das Fenster des Kommunikationszimmers. Ghana ist seit 1957 unabhängig, das Castle zusammen mit den anderen Festungen der Küste in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Es ist eines der größten und am besten erhaltenen Kolonialgebäude Westafrikas und gleichzeitig eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten von Cape Coast. Zum Fort William verirrt sich hingegen kaum ein Tourist. Die meisten Menschen auf der Straße wissen nicht, wie man zum Turm kommt: Vom Hinterausgang einer unscheinbaren Terrasse in der Coronation Road führt ein Pfad auf den Hügel, auf dem heute nur noch Krähen nisten. Und Familie Abiyeh.
„Herzlich willkommen in Cape Coast“, sagt Mrs Abiyeh, als ihr immer noch silbrig schimmernder Zeigefinger über die hügelige Stadt streift. Von der höchsten Turmgalerie aus ist Cape Coast ein Meer aus einfachen, kleinen Häusern, das von einer Hügelflanke am Horizont bis zur gegenüberliegenden reicht. „Und hier drüben liegt Elmina Castle. Es ist das älteste Kolonialgebäude in ganz Westafrika“, erklärt Mrs Abiyeh geduldig. Ihre Familie darf sehr günstig im Leuchtturm leben unter der Bedingung, dass sie ihn für Besucher öffnen. Wenn denn einer kommt. Umso mehr Aufmerksamkeit schenkt Mrs Abiyeh denen, die sich zum Turm verirren. Sie lebt mit ihrer Familie seit über zehn Jahren auf dem Turm, und ebenso lange ist sie schon mit ihrem Mann verheiratet. Aus ihrem Mund klingt das mehr nach einer Schätzung denn nach kalendarischer Rechnung. Dann zeigt sie uns sogar ihre Wohnung im Turmzimmer. Die beiden Farbfotos von ihrer Hochzeit sind ihr ganzer Stolz.
Zum Abschluss versucht Mrs Abiyeh noch, ein Foto von uns zu machen. Sie scheint mit der Kamera überfordert und gibt sie schließlich an ihre Tochter weiter. Wir bedanken uns herzlich und verabschieden uns von den Abiyehs, die vielleicht einen der ungewöhnlichsten Orte Ghanas bewohnen. Und während wir das weithin sichtbare, aber doch so versteckte Fort William hinter uns lassen, greift Mrs Abiyeh wieder zum Messer in der verbeulten Blechschüssel und schabt die letzten silbrigen Fischschuppen ab.
Mehr Fotos aus Cape Coast gibt es in meinem Flickr-Album Ghana 2014. Der Eintrag im Reiselogbuch vom 9. Oktober 2014, dessen Eindrücke ich im Text schildere, heißt „Kulturzeit“. Die restlichen Einträge aus Ghana findest du hier. Die Recherchereise nach Ghana wurde vom EU-Journalismusförderprogramm Beyond Your World in Zusammenarbeit mit der Deutschen Welle Akademie unterstützt.